Dienstag, 21. April 2015

Der Liebesbrief

BRIEF. Die Figur zielt auf die besondere Dialektik des Liebesbriefes ab, der leer (codiert) und zugleich expressiv ist (von dem Bedürfnis getragen, das Verlangen mitzuteilen).

[...] Was bedeutet dieses "an jemanden denken"? Es bedeutet: ihn vergessen (ohne Vergessen ist kein Leben möglich) und aus diesem Vergessen wieder und wieder erwachen. Viele Dinge führen dich durch Assoziation in meinen Diskurs ein. "An dich denken" will nichts anderes besagen als diese Metonymie. Denn an sich ist dieses Denken leer: ich denke dich nicht, ich lasse dich einfach wiederauftauchen (in eben dem Maße, wie ich dich vergesse). [...]

Aber der Brief hat für den Liebenden keine taktische Bedeutung: er ist rein expressiv - im äußersten Falle schmeichlerisch (aber die Schmeichlerei ist hier durchaus nicht eigennützig: sie ist lediglich die Sprache der Hingabe). [...]

Als Begierde, die er ist, erwartet der Liebesbrief eine Antwort; er erlegt dem Anderen implizit die Verpflichtung auf zu antworten, und in Ermangelung einer Antwort wandelt sich dessen Bild, wird anders. Eben das erklärt mit Bestimmtheit der junge Freud seiner Verlobten:"Aber ich will nicht immer ohne Antwort schreiben und alsbald aufhören, wenn Du mir nicht erwiderst. Beständige Selbstgespräche über ein geliebtes Wesen, denen die Korrektur und Auffrischung durch dieses selbst fehlt, führen zu falschen Meinungen über das gegenseitige Verhältnis und zur Entfremdung, wenn man einmal zusammenkommt und es anders findet, als man ohne Gewähr geglaubt hatte."
(Wer die "Ungerechtigkeiten" der Kommunikation hin nähme, wer auch weiterhin sanft spräche, zärtlich, ohne dass er eine Antwort erhielte, machte sich eine meisterhafte Fähigkeit zu eigen: die der Mutter.)

r.barthes



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