Sonntag, 19. April 2015

Der Abwesende II

3. Manchmal gelingt es mir, die Abwesenheit leidlich zu ertragen. Ich bin dann "normal"; ich richte mich nach der Art und Weise, wie "jedermann" die Trennung von einer "teuren Person" erträgt; ich unterwerfe  mich sachkundig der Dressur, mittels derer man sich sehr früh an die Abwesenheit der Mutter gewöhnt hat -was gleichwohl anfangs nicht aufhörte schmerzlich zu sein (um nicht zu sagen: beängstigend). Ich handele als ordentlich entwöhntes Kind; wartend weiß ich mich von anderen Dingen zu ernähren als von der Mutterbrust.
Diese leidlich ertragene Abwesenheit ist nichts anderes als das Vergessen. Ich bin gelegentlich untreu. Das ist die Bedingung meines Überlebens; denn wenn ich nicht vergäße, stürbe ich. Der Liebende, der nicht manchmal vergisst, stirbt an Maßlosigkeit, Ermattung und Gedächtnisüberreizung (wie Werther).

4. Aus diesem Vergessen erwache ich sehr rasch. Eilends lasse ich eine Erinnerung, eine Verwirrung an seine Stelle treten. Vom Körper rührt ein (klassisches) Wort her, das das Gefühl der Abwesenheit zum Ausdruck bringt: sehnen: "sich nach der leiblichen Gegenwart sehnen". [...] Bei Abwesenheit des Geliebten bin ich, trübselig, ein abgelöstes Bild, das vertrocknet, vergilbt und wieder schrumpelig wird. [...]

Die Abwesenheit ist die Figur der Entbehrung; ich begehre und brauche in ein und demselben Atemzug. Die Begierde bricht sich am Bedürfnis: eben das ist der quälende Zug des Liebesgefühls. [...]

7. Ich nehme allein in einem Café Platz; man eilt zu meiner Begrüßung herbei; ich fühle mich von Menschen umgeben, nach meinen Wünschen gefragt, umworben. Der Andere aber ist abwesend; ich beschwöre ihn mir selbst herauf, damit er mich von jener Willfährigkeit der Welt gegenüber bewahrt, die mir auflauert. Ich berufe mich auf seine "Wahrheit" (die Wahrheit, deren Gefühl er mir vermittelt) gegen die Verführungshysterie, in die ich mich hineintreiben fühle. Ich mache die Abwesenheit des Anderen für meine Weltverfallenheit verantwortlich. [...]

r. barthes
picture/sculpture:  Simon Hitchens "In the Presence  of Absence II"




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