Samstag, 18. April 2015

Der Abwesende

1. Es gibt ungezählte Lieder, Volksweisen und Chansons über die Abwesenheit des geliebten Partners. Und doch ist diese klassische Figur im Werther nicht zu finden. Der Grund dafür ist einfach: hier rührt sich das Liebesobjekt (Lotte) nicht von der Stelle; das liebende Subjekt (Werther) ist es, das sich zu einem bestimmten Zeitpunkt entfernt. Nun gibt es aber keine andere Abwesenheit als die des Anderen: Der Andere macht sich davon, ich bleibe da. Der Andere ist im Zustand immerwährenden Aufbruchs, im Zustande der Reise; er ist, seiner Bestimmung nach, Wanderer, Flüchtiger; ich, der ich liebe, bin meiner umgekehrten Bestimmung nach sesshaft, unbeweglich, verfügbar, in Erwartung, an Ort und Stelle gebannt, nicht abgeholt wie ein Paket in einem verlassenen Bahnhofswinkel. Die Abwesenheit des Liebenden geht nur in eine Richtung und lässt sich nur aus der Position dessen aussprechen, der dableibt - nicht von dem, der aufbricht: das immer gegenwärtige ich konstituiert sich nur angesichts eines unaufhörlich abwesenden du. Die Abwesenheit aussprechen heißt von vornherein die Behauptung aufstellen, dass der Platz des Subjekts und der Platz des Anderen nicht austauschbar sind; es heißt: "Ich werde weniger geliebt, als ich selbst liebe."

2. Historisch gesehen wird der Diskurs der Abwesenheit von der Frau gehalten: Die Frau ist sesshaft, der Mann ist Jäger, Reisender; die Frau ist treu (sie wartet), der Mann ist Herumtreiber (er fährt zur See, er "reißt auf"). Es ist die Frau, die der Abwesenheit Gestalt gibt, ihre Fiktion ausarbeitet, denn sie hat die Zeit dazu; sie webt und singt; die Spinnerinnen, die Webstuhllieder sprechen gleichzeitig die Immobilität (durch das Surren des Spinnrades) und die Abwesenheit aus (die Reiserhythmen in der Ferne, die Meeresdünungen, die Ausritte). Daraus folgt, dass bei jedem Manne, der die Abwesenheit des Anderen ausspricht, sich Weibliches äußert: dieser Mann, der da wartet und darunter leidet, ist auf wundersame Weise feminisiert. Ein Mann ist nicht deshalb feminisiert, weil er invertiert ist, sondern weil er liebt.

roland barthes, fragmente einer sprache der liebe


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