Samstag, 25. Oktober 2014

Stufen


Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden...
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!


~ Hermann Hesse

Mittwoch, 22. Oktober 2014

Sokrates

Zum weisen Sokrates kam einer gelaufen und sagte: "Höre, Sokrates, das muss ich dir erzählen!" - "Halte ein!", unterbrach ihn der Weise. (...) "Lass erst sehen, ob das, was du mir sagen willst, durch die drei Siebe hindurchgeht: Das erste ist die Wahrheit. Hast du alles, was du mir erzählen willst,
geprüft, ob es wahr ist?" - "Nein, ich hörte es erzählen und..." - "So, so! Aber sicher hast du es im zweiten Sieb geprüft. Es ist das Sieb der Güte. Ist das, was du mir erzählen willst, gut?" Zögernd sagte der andere: "Nein, im Gegenteil..." - "Hm" unterbrach ihn der Weise, "so lasst uns auch das dritte Sieb noch anwenden. Ist es notwendig, dass du mir das erzählst?" - "Notwendig nun gerade nicht...." - "Also", sagte lächelnd der Weise, "wenn es weder wahr noch gut noch notwendig ist, so lass es begraben sein, und belaste dich und mich nicht damit."

Das Weltall ohne Mitte

Es scheint, als stünden wir im Weltall an einer ganz besonderen Stelle, nämlich dort, von wo aus alle Galaxien wegfliegen. Der englische Astrophysiker Sir Arthur Eddington formulierte einmal: "Was haben wir denn an uns, dass alle Galaxien vor uns Reißaus nehmen, als wären wir eine Pestbeule im Weltall?" Aber Eddington wusste, dass das nur ein Scheinproblem ist. Ein einfaches Beispiel zeigt das.
  Stellen wir uns vor, wir würden einen Hefekuchen backen. Der Teig ist fertig, es herrscht die richtige Temperatur, und er geht jetzt auf. Im Teig befinden sich Rosinen. Versetzen wir uns in die Lage einer Rosine, die ihre Mitrosinen beobachtet. Während der Teig aufgeht, bewegen sich alle von ihr fort, die entfernteren schneller als die näheren: doppelte Entfernung, doppelte Geschwindigkeit. Die Rosine beobachtet ein Hubblesches Gesetz. Daraus darf sie aber nicht schließen, dass sie in der Mitte des Teiges sitzt, denn jede Rosine beobachtet, dass alle anderen von ihr wegfliegen. So geht es auch uns: Aus der Tatsache, dass sich alle Galaxien von uns wegbewegen, dürfen wir nicht schließen, dass wir die Rosine in der Mitte der Welt sind.
  
Rudolf Kippenhahn, "Kosmologie"