Sonntag, 26. April 2015

Die Bilder - BARTHES

BILD. Auf dem Felde der Liebe erwachsen die schwersten Wunden mehr aus dem, was man sieht, als aus dem, was man weiß.

1. (>>Bei der Rückkehr aus der Garderobe sieht er sie plötzlich, einander zugeneigt, in eine leise Unterhaltung vertieft.<<)

Das Bild hebt sich heraus; es ist klar und deutlich wie ein Brief: es ist der Brief über das, was mir wehtut. Genau, vollständig, ausgefeilt, endgültig, lässt er mir nicht den geringsten Raum: ich bin davon ausgeschlossen wie von der Urszene, die wahrscheinlich nur insoweit existiert, wie sie sich vor dem Umriss des Schlüssellochs abzeichnet. Und das ergibt denn auch endlich die Definition des Bildes, jedes Bildes: das Bild ist das, von dem ich ausgeschlossen bin. Im Gegensatz zu jenen Rebus-Zeichnungen, wo der Jäger versteckt ins Laubgewirr eingearbeitet ist, komme ich in dieser Szene nicht vor: das Bild ist ohne Rätsel.

2. Das Bild ist unwiderruflich, es hat immer das letzte Wort; kein Wissen kann ihm widersprechen, es zurechtrücken, es verfeinern. Werther weiß wohl, dass Lotte Albert versprochen ist, und leidet darunter letztlich nur vage; aber "es geht [ihm] ein Schauder durch den ganzen Körper, Wilhelm, wenn Albert sie um den schlanken Leib fasst". Ich weiß wohl, dass Lotte mir nicht gehört, sagt Werthers Vernunft, aber gleichwohl, Albert stiehlt sie mir, sagt das Bild, das er vor Augen hat.

3. Die Bilder, aus denen ich ausgeschlossen bin, sind für mich grausam; aber manchmal (Umkehrung) bin ich auch ins Bild eingelassen. Wenn ich mich von der Caféterrasse entferne, auf der ich den Anderen in Gesellschaft zurücklassen muss, sehe ich mich allein aufbrechen und, ein wenig ferngerückt, in die verlassene Straße einbiegen. Ich verwandle meine Ausschließung in ein Bild. Dieses Bild, in dem meine Abwesenheit wie in einem Spiegel eingefangen wird, ist ein trauriges Bild.

Ein Gemälde der Romantik zeigt eine Auftürmung von Eisblöcken in fahlem Polarlicht; kein Mensch, kein Objekt belebt diesen trostlosen Raum; aber wenn ich auch nur im geringsten der Traurigkeit der Liebe verfallen bin, verlangt diese Leere gerade, dass ich mich hineinprojiziere; ich sehe mich als kleine Figur, für immer verlassen, auf einem dieser Eisblöcke sitzen. "Mir ist kalt", sagt der Liebende, "kehren wir um", aber es gibt keinen Weg, das Schiff zerschellt. Es gibt eine besondere Kälte des Liebenden: das Frösteln des kleinen (Menschen-,Tier-)Wesens, das der mütterlichen Wärme bedarf.

4. Was mich verletzt, sind die Formen der Beziehung, ihre Bilder; oder vielmehr: was die anderen Form nennen, erlebe ich als Kraft. Das Bild ist - wie das Beispiel für den Zwanghaften - die Sache selbst. Der Liebende ist also ein Künstler, und seine Welt ist eine ganz verkehrte Welt, weil darin jedes Bild sein eigener Zweck ist (nichts, was über das Bild hinausgeht).

roland barthes, fragmente einer sprache der liebe
bild: caspar david friedrich "das eismeer"




Samstag, 25. April 2015

Über das Buch Genesis

Die theologische Bedeutung des Buches liegt in seinen Aussagen über Gott als den Schöpfer der Welt und den Herrn der  Geschichte. Wichtig ist dabei vor allem die Erschaffung der Welt durch das Wort Gottes, die Gottebenbildlichkeit des Menschen, die Erzählung von Paradies und Sündenfall, von der Sintflut und dem Bund mit Noach, von der gnadenhaften Erwählung Abrahams und seiner Nachkommen als Segensmittler für die ganze Menschheit, von den Verheißungen an die Patriarchen. Alles Handeln Gottes in der Geschichte ist nach dieser Sicht letztlich auf das Heil der Menschen ausgerichtet.

Das Buch Genesis verarbeitet älteste Überlieferungen Israels und seiner Nachbarvölker über die Urgeschichte der Menschheit und die Vorgeschichte Israels. Es wählt davon Ereignisse aus, die für die Menschheitsgeschichte charakteristisch sind, und zeigt an bestimmten Personen, wie Gott die Menschen zum Heil beruft, wie die Menschen das Heilsangebot Gottes ausschlagen und sich damit selbst immer tiefer ins Unheil stürzen; es zeigt aber auch, wie Gott in Abraham und seinen Nachkommen dem Fluch den unverdienten Segen entgegensetzt, an dem alle Menschen Anteil erhalten sollen.

Die Erzählungen der Urgeschichte sind weder naturwissenschaftliche Aussagen noch als Geschichtsdarstellung, sondern als Glaubensaussagen über das Wesen der Welt und des Menschen über deren Beziehung zu Gott zu verstehen. Die Geschichte der Erzväter und der Söhne Jakobs sind zwar in Einzelheiten ebenfalls nicht historisch nachprüfbar, doch stimmen die politischen, sozialen, rechtlichen, kulturellen und religiösen Zustände, die hier geschildert werden, weithin mit den Verhältnissen überein, wie sie die heutige Forschung für Palästina und seine Umwelt in der Zeit vor Mose, d.h. für die sog. Mittlere und Späte Bronzezeit, erschlossen hat. Man darf die Geschichtsdarstellung des Buches Genesis nicht an der modernen Geschichtsschreibung messen, sondern man muss sie als antike Geschichtsschreibung und als theologische Geschichtsdeutung beurteilen. Der die Verfasser des Buches inspirierende Gott wollte uns nicht genaue Einzelheiten über die Entstehung der Welt und des Menschen mitteilen oder uns über den exakten Verlauf der Patriarchengeschichte unterrichten. Vielmehr wollte er an den erzählten Begebenheiten sein Heilsangebot und die typischen Reaktionen der Menschen darauf anzeigen. Damit wollte er deutlich machen, dass er auch Sünder zu Trägern und Vermittlern von Segen und Heil erwählt.


Genesis 1

Dann sprach Gott, der Herr: es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht. Gott, der Herr, formte aus dem Ackerboden alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels und führte sie dem Menschen zum um zu sehen, wie er sie benennen würde. Und wie der Mensch jedes lebendige Wesen benannte, so sollte es heißen. Der Mensch gab Namen allem Vieh, den Vögeln des Himmels und allen Tieren des Feldes. Aber eine Hilfe, die dem Menschen entsprach, fand er nicht.
  Da ließ Gott, der Herr, einen tiefen Schlaf auf den Menschen fallen, sodass er einschlief, nahm eine seiner Rippen und verschloss ihre Stelle mit Fleisch. Gott, der Herr, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu. Und der Mensch sprach:
  Das endlich ist Bein von meinem Bein / und Fleisch von meinem Fleisch. / Frau soll sie heißen, / denn vom Mann ist sie genommen.
Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau und sie werden ein Fleisch.
Beide, Adam und seine Frau, waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander.

Genesis 2; 18-25


"Das Dreifingerfaultier"

Als Abschlussarbeit in Zoologie schrieb ich eine Funktionsanalyse der Schilddrüse des Dreifingerfaultiers. Ich wählte das Faultier, weil es mit seinem Lebenswandel - ruhig, still, in sich gekehrt - meinem zerrütteten Ich ein wenig Trost bot.
  Es gibt Zweifingerfaultiere und es gibt Dreifingerfaultiere, wobei das Unterscheidungsmerkmal die Vorderbeine sind, denn an den Hinterbeinen haben alle Faultiere drei Finger. Ich hatte das große Glück, dass ich einen Sommer lang das Dreifingerfaultier in den Dschungeln von Äquatorialbrasilien in situ studieren konnte. Es ist ein äußerst faszinierendes Geschöpf. Im Grunde ist die Trägheit sein einziger Wesenszug. Es schläft oder ruht im Durchschnitt zwanzig stunden am Tag. Unser Team untersuchte die Schlafgewohnheiten von fünf wild lebenden Dreifingerfaultieren, indem wir ihnen am frühen Abend, wenn sie eingeschlafen waren, leuchtend rote, mit Wasser gefüllte Plastikschälchen auf die Köpfe stellten. Wir konnte sehen, dass sie am nächsten Morgen, wenn sich im Wasser schon die Insekten tummelten,, noch immer an Ort und Stelle waren. Am regsten ist das Faultier bei Sonnenuntergang, wobei das Wort rege hier mit größtmöglicher Relativität zu verstehen ist. Das Tier bewegt sich in seiner charakteristischen hängenden Haltung mit einer Geschwindigkeit von etwa 400 Metern die Stunde den Ast eines Baumes entlang. Am Boden kriecht es, wenn es motiviert ist, mit einem Tempo von 250 Metern die Stunde zu seinem nächsten Baum, das heißt 440-mal langsamer als ein motivierter Gepard. Unmotiviert legt es vier bis fünf Meter die Stunde zurück.
  Über die Außenwelt erfährt das Dreifingerfaultier nicht viel. Auf einer Skala von 2 bis 10, bei der die 2 für außerordentliche Dumpfheit und 10 für extreme Wachheit steht, stufte Beebe (1926) den Tast-, Geschmacks- und Gesichtssinn und das Gehör des Faultiers mit 2 ein, den Geruchssinn mit 3. Trifft man auf freier Wildbahn auf ein schlafendes Dreifingerfaultier, so genügt es in der Regel, es zwei oder dreimal anzustoßen, um es zu wecken. Es wird sich dann schläfrig in jede erdenkliche Richtung umsehen, nur nicht in die, aus der der Stoß kam. Warum es sich umsieht, weiß man allerdings nicht, denn das Faultier sieht wie Mr Magoo alles nur durch einen Nebel. Was das Gehör angeht, ist ein Faultier nicht wirklich taub; es interessiert sich nur nicht für Geräusche. Beebe berichtet, dass er neben schlafenden oder fressenden Faultieren Gewehre abfeuerte und kaum eine Reaktion damit hervorrief. Und den etwas höher entwickelten Geruchssinn eines Faultiers sollte man auch nicht überschätzen. Es heißt, sie könnten abgestorbene Äste riechen und dann meiden, doch Bullock (1968) berichtet, dass Faultiere "häufig" zu Boden fallen, weil sie sich an abgestorbenen Ästen festhalten.
  Man fragt sich, wie ein solches Tier überleben kann.
  Es überlebt, weil es so langsam ist. Trägheit und Schläfrigkeit schützen es vor allen Gefahren, sie sorgen dafür, dass ein Jaguar oder Ozelot, dass Harpyien und Anakondas das Faultier überhaupt nicht wahrnehmen. Im Pelz des Faultiers gedeiht eine Algenart, die in der Trockenzeit braun und in der Regenzeit grün ist, und so fügt sich das Tier stets in das Moos und Blattwerk seiner Umgebung ein und wirkt wie eine Ameisen- oder Eichhörnchennest oder einfach nur wie ein Teil des Baumes.
  Das Dreifingerfaultier lebt ein friedliches Vegetarierleben in vollkommenem Einklang mit seiner Umgebung. "Stets hat es ein gutmütiges Lächeln auf den Lippen", schreibt Tirler (1966). Es ist ein Lächeln, das ich mit meinen eigenen Augen gesehen habe. Ich bin keiner, der leichtfertig menschliche Charakterzüge oder Gefühlsregungen auf Tiere projiziert, doch viele Male, wenn ich in jenem Monat in Brasilien ein ruhendes Faultier betrachtete, hatte ich den Eindruck, dass ich in der Gegenwart eines an den Füßen hängenden, tief in seine Meditation versenkten Jogis war oder eines ganz dem Gebet ergebenen Eremiten, in der Gegenwart von Wesen großer Weisheit, deren inneres Leben jenseits all meiner wissenschaftlichen Forschungen lag.

Yann Martel "Schiffbruch mit Tiger"


Mittwoch, 22. April 2015

Glückliche Tage

FEST. Das liebende Subjekt erlebt jede Begegnung mit dem geliebten Wesen als Fest.

1. Das Fest - das, was erwartet wird. Was ich von der versprochenen Präsenz erwarte, ist eine unerhörte Summierung von Wonnen, ein Gelage; ich jubele wie das Kind, das sich des Wesens zu sehen freut, dessen bloße Gegenwart eine Fülle von Befriedigungen verheißt und bedeutet; ich werde, für mich ganz allein, die >>Quelle alles Guten<< vor mir haben.

Werther: "Ich lebe so glückliche Tage, wie sie Gott seinen Heiligen aufspart; und mit mir mag werden was will, so darf ich nicht sagen, dass ich die Freuden, die reinsten Freuden des Lebens nicht genossen habe."

2. "Diese Nacht! ich zittere es zu sagen, hielt ich sie in meinen Armen, fest an meinen Busen gedrückt, und deckte ihren liebelispelnden Mund mit unendlichen Küssen; mein Auge schwamm in der Trunkenheit des ihrigen! Gott! bin ich strafbar, dass ich auch jetzt noch eine Seligkeit fühle, mir diese glühenden Freuden mit voller Innigkeit zurückzurufen?" Werther

Das Fest ist für den Liebenden, den Träumer ein Jubel, kein Zerspringen; ich genieße das Festessen, die Unterhaltung, die Zärtlichkeit, die sichere Verheißung von Lust: "eine Kunst des Lebens über dem Abgrund".

(Bedeutet Ihnen das denn nichts, jemandes Fest zu sein?)

    r. barthes


Dienstag, 21. April 2015

Was es bedeutet ein Liebender zu sein.

Was bedeutet es ein Liebender zu sein?
  Es bedeutet zugrunde zu gehen.

Ich liebe Hunde sehr, aber ich werde mir nicht wieder einen Hund anschaffen, eben weil ich sie so sehr liebe und mit dem Wissen sich irgendwann, früher oder später von dem Hund für immer trennen zu müssen, qualvoll und tränenüberschwemmt, würde ich es vorziehen lieber kein gebrochenes Herz zu haben. Denn ein gebrochenes Herz ist ein sehr trauriges Herz.
- Es bedeutet zugrunde zu gehen!

Ich liebe Kinder über alles in der Welt, aber ich werde mir keines zulegen. Denn ich würde mich so sehr ständig um sie sorgen, dass ich nicht zur Ruhe kommen könnte. Wenn sie woanders wären, würde ich denken: "Ist alles in Ordnung? Kommen sie heil zurück?" Im schlimmsten Fall passiert ihnen etwas. Und falls das Schlimmste passieren würde, würde ich mit ihnen im letzten Atemzug ebenso sterben. Was hätte ich dann noch von Ihnen? Nicht einmal Erinnerungen, weil ich ebenso gestorben bin.
- Durch die Sorgen würde ich zugrunde gehn'!

Ich liebe meine Eltern, aber extra nicht zu sehr. Denn wenn ich sie zu sehr lieben würde, was wär dann der Dank wenn sie irgendwann fehlen? Ein gebrochenes Herz! Und ein gebrochenes Herz ist ein sehr trauriges Herz.
- Es bedeutet zugrunde zu gehen!

Ich habe eine große Liebe, aber wir sind nicht zusammen. Auch das ist schlußendlich gut so. Denn was wenn ich mit meiner großen Liebe zusammen wäre? Es wäre natürlich paradiesisch, aber auch das Paradies ist vergänglich. Was wenn das Schlimmste passiert, dass ich mich von ihr trennen müsste? Ich würde sterben. Was hätte ich dann noch von ihr? Nicht einmal Erinnerungen.
- Es bedeutet zugrunde zu gehen!

Was bedeutet es ein Liebender zu sein?
  Es bedeutet zugrunde zu gehen.

Deshalb lieb ich lieber leise
Thats why I prefer to love quietly.

von Tom Wolfe



Der Liebesbrief

BRIEF. Die Figur zielt auf die besondere Dialektik des Liebesbriefes ab, der leer (codiert) und zugleich expressiv ist (von dem Bedürfnis getragen, das Verlangen mitzuteilen).

[...] Was bedeutet dieses "an jemanden denken"? Es bedeutet: ihn vergessen (ohne Vergessen ist kein Leben möglich) und aus diesem Vergessen wieder und wieder erwachen. Viele Dinge führen dich durch Assoziation in meinen Diskurs ein. "An dich denken" will nichts anderes besagen als diese Metonymie. Denn an sich ist dieses Denken leer: ich denke dich nicht, ich lasse dich einfach wiederauftauchen (in eben dem Maße, wie ich dich vergesse). [...]

Aber der Brief hat für den Liebenden keine taktische Bedeutung: er ist rein expressiv - im äußersten Falle schmeichlerisch (aber die Schmeichlerei ist hier durchaus nicht eigennützig: sie ist lediglich die Sprache der Hingabe). [...]

Als Begierde, die er ist, erwartet der Liebesbrief eine Antwort; er erlegt dem Anderen implizit die Verpflichtung auf zu antworten, und in Ermangelung einer Antwort wandelt sich dessen Bild, wird anders. Eben das erklärt mit Bestimmtheit der junge Freud seiner Verlobten:"Aber ich will nicht immer ohne Antwort schreiben und alsbald aufhören, wenn Du mir nicht erwiderst. Beständige Selbstgespräche über ein geliebtes Wesen, denen die Korrektur und Auffrischung durch dieses selbst fehlt, führen zu falschen Meinungen über das gegenseitige Verhältnis und zur Entfremdung, wenn man einmal zusammenkommt und es anders findet, als man ohne Gewähr geglaubt hatte."
(Wer die "Ungerechtigkeiten" der Kommunikation hin nähme, wer auch weiterhin sanft spräche, zärtlich, ohne dass er eine Antwort erhielte, machte sich eine meisterhafte Fähigkeit zu eigen: die der Mutter.)

r.barthes



Sonntag, 19. April 2015

Winnie Puuh ~ Die verzauberten Ohrwärmer

https://www.youtube.com/watch?v=7B_x3B_3I00

Tom Wolfe

                                 Copyright ELISA MILDNER


Der Abwesende II

3. Manchmal gelingt es mir, die Abwesenheit leidlich zu ertragen. Ich bin dann "normal"; ich richte mich nach der Art und Weise, wie "jedermann" die Trennung von einer "teuren Person" erträgt; ich unterwerfe  mich sachkundig der Dressur, mittels derer man sich sehr früh an die Abwesenheit der Mutter gewöhnt hat -was gleichwohl anfangs nicht aufhörte schmerzlich zu sein (um nicht zu sagen: beängstigend). Ich handele als ordentlich entwöhntes Kind; wartend weiß ich mich von anderen Dingen zu ernähren als von der Mutterbrust.
Diese leidlich ertragene Abwesenheit ist nichts anderes als das Vergessen. Ich bin gelegentlich untreu. Das ist die Bedingung meines Überlebens; denn wenn ich nicht vergäße, stürbe ich. Der Liebende, der nicht manchmal vergisst, stirbt an Maßlosigkeit, Ermattung und Gedächtnisüberreizung (wie Werther).

4. Aus diesem Vergessen erwache ich sehr rasch. Eilends lasse ich eine Erinnerung, eine Verwirrung an seine Stelle treten. Vom Körper rührt ein (klassisches) Wort her, das das Gefühl der Abwesenheit zum Ausdruck bringt: sehnen: "sich nach der leiblichen Gegenwart sehnen". [...] Bei Abwesenheit des Geliebten bin ich, trübselig, ein abgelöstes Bild, das vertrocknet, vergilbt und wieder schrumpelig wird. [...]

Die Abwesenheit ist die Figur der Entbehrung; ich begehre und brauche in ein und demselben Atemzug. Die Begierde bricht sich am Bedürfnis: eben das ist der quälende Zug des Liebesgefühls. [...]

7. Ich nehme allein in einem Café Platz; man eilt zu meiner Begrüßung herbei; ich fühle mich von Menschen umgeben, nach meinen Wünschen gefragt, umworben. Der Andere aber ist abwesend; ich beschwöre ihn mir selbst herauf, damit er mich von jener Willfährigkeit der Welt gegenüber bewahrt, die mir auflauert. Ich berufe mich auf seine "Wahrheit" (die Wahrheit, deren Gefühl er mir vermittelt) gegen die Verführungshysterie, in die ich mich hineintreiben fühle. Ich mache die Abwesenheit des Anderen für meine Weltverfallenheit verantwortlich. [...]

r. barthes
picture/sculpture:  Simon Hitchens "In the Presence  of Absence II"




Samstag, 18. April 2015

"Anbetungswürdig!"

Ich begegne in meinem Leben Millionen von Leiber; von diesen Millionen kann ich nur einige Hundert begehren; von diesen Hunderten aber liebe ich nur einen. Der Andere, dem meine Liebe gilt, bezeichnet mir die Besonderheit meines Verlangens.
Diese Wahl, die so streng ist, dass nur der Eine, Einzige übrig bleibt, macht, sagt man, den Unterschied der analytischen und der liebenden Übertragung aus; die eine ist universal, die andere spezifisch. Es hat vieler Zufälle, vieler überraschender Koinzidenzen bedurft (und wahrscheinlich vielen "Suchens"), bis ich das Bild finde, das unter tausend anderen, meinem Verlangen entspricht. Da liegt ein tiefes Rätsel verborgen, für das ich den Schlüssel niemals auffinden werde: warum begehre ich gerade Ihn? Warum begehre ich ihn unablässig, sehnend? Begehre ich ihn als Ganzes (eine Silhouette, eine Form, ein Gesichtsausdruck)? Oder nur einen Teil dieses Körpers? Und was ist in diesem Falle dazu ausersehen, an diesem geliebten Körper für mich zum Fetisch zu werden? Welcher vielleicht unglaublich kleine Teil, welche unwesentliche Eigenschaft? Die Kuppe eines Fingernagels, ein etwas abgeschrägter Zahn, eine Haarsträhne, eine bestimmte Art, beim Reden, beim Rauchen die Finger zu spreizen? Von allen diesen Falten des Körpers gelüstet es mich zu sagen, dass sie anbetungswürdig sind. Anbetungswürdig soll heißen: das ist meine Begierde, soweit sie je einzelne Begierde ist:"Das ist es! Genau das ist es (was ich liebe)!" Dennoch, je deutlicher ich die Besonderheit meiner Begierde erlebe, um so weniger kann ich sie benennen; der Präzision der Zielscheibe entspricht ein zitterndes Schwanken des Namens; das Eigentümliche der Begierde kann nur die Uneigentlichkeit der Aussage hervorbringen. Von diesem sprachen Misslingen bleibt lediglich eine Spur erhalten: das Wort "anbetungswürdig" (die treffende Übersetzung wäre das lateinische ipse: er ist es, er selbst, in Person).


text: roland barthes
bild: hugh douglas hamilton "cupid and psyche"

Der Abwesende

1. Es gibt ungezählte Lieder, Volksweisen und Chansons über die Abwesenheit des geliebten Partners. Und doch ist diese klassische Figur im Werther nicht zu finden. Der Grund dafür ist einfach: hier rührt sich das Liebesobjekt (Lotte) nicht von der Stelle; das liebende Subjekt (Werther) ist es, das sich zu einem bestimmten Zeitpunkt entfernt. Nun gibt es aber keine andere Abwesenheit als die des Anderen: Der Andere macht sich davon, ich bleibe da. Der Andere ist im Zustand immerwährenden Aufbruchs, im Zustande der Reise; er ist, seiner Bestimmung nach, Wanderer, Flüchtiger; ich, der ich liebe, bin meiner umgekehrten Bestimmung nach sesshaft, unbeweglich, verfügbar, in Erwartung, an Ort und Stelle gebannt, nicht abgeholt wie ein Paket in einem verlassenen Bahnhofswinkel. Die Abwesenheit des Liebenden geht nur in eine Richtung und lässt sich nur aus der Position dessen aussprechen, der dableibt - nicht von dem, der aufbricht: das immer gegenwärtige ich konstituiert sich nur angesichts eines unaufhörlich abwesenden du. Die Abwesenheit aussprechen heißt von vornherein die Behauptung aufstellen, dass der Platz des Subjekts und der Platz des Anderen nicht austauschbar sind; es heißt: "Ich werde weniger geliebt, als ich selbst liebe."

2. Historisch gesehen wird der Diskurs der Abwesenheit von der Frau gehalten: Die Frau ist sesshaft, der Mann ist Jäger, Reisender; die Frau ist treu (sie wartet), der Mann ist Herumtreiber (er fährt zur See, er "reißt auf"). Es ist die Frau, die der Abwesenheit Gestalt gibt, ihre Fiktion ausarbeitet, denn sie hat die Zeit dazu; sie webt und singt; die Spinnerinnen, die Webstuhllieder sprechen gleichzeitig die Immobilität (durch das Surren des Spinnrades) und die Abwesenheit aus (die Reiserhythmen in der Ferne, die Meeresdünungen, die Ausritte). Daraus folgt, dass bei jedem Manne, der die Abwesenheit des Anderen ausspricht, sich Weibliches äußert: dieser Mann, der da wartet und darunter leidet, ist auf wundersame Weise feminisiert. Ein Mann ist nicht deshalb feminisiert, weil er invertiert ist, sondern weil er liebt.

roland barthes, fragmente einer sprache der liebe