Samstag, 9. August 2014

artist & time

Man kann sich fragen: „Wieviel Zeit brauchte der Künstler für die Zeichnung?“ Eine Sekunde? Oder einige Monate? Jahre? Vielleicht war ein ganzes Leben notwendig, bevor diese Handbewegung möglich wurde.
Kreative Menschen – und wir alle sind kreativ – brauchen (gemessen nach der Uhr) viel Zeit, in der sie einfach „nichts tun“. Für ihre Umgebung scheinen sie Tagträumen nachzuhängen oder herumzualbern. Innerlich aber stellen sie die Beziehung zu der Zeit ihrer Arbeit, ihren nuancierten Rhythmen und fraktalen Strukturen her. Die Schauspielerin Glenda Jackson verglich die Zeit, die nötig ist ist, um während der Proben in eine Rolle hineinzuwachsen, mit „einem Brot, das in den Ofen geschoben wird“. Ihre Bemerkung ist, ohne dass sie das gewollt hätte, alchimistisch, ruft sie doch die Vorstellung wach, dass Materie in ein alchimistisches Gefäß eingeschlossen und in das heiße Innere eines Ofens gelegt wird. Zu den wesentlichen Grundsätzen der Alchimie gehört, dass jede Stufe eine bestimmte Zeitdauer benötigt – was viele Psychologen als Metapher für die innere Entwicklung des Menschen sehen. Die „Arbeit“, wie das alchimistische Projekt genannt wird, kann nicht beschleunigt oder verlangsamt werden. Jeder Zustand, jede Stufe braucht seine eigene Zeit.

Kreativität verlangt daher manchmal lange Zeitabschnitte scheinbarer Untätigkeit. Sie kann aber auch mit einem erstaunlichen Tempo hervorbrechen, so dass in kurzer Zeit unheimlich viel weggeschafft wird. Der Psychologe Howard Gruber meint, kreative Menschen betreiben ein ganzes „Netzwerk von Unternehmungen“ und beschäftigen sich mit vielfältigen Arbeiten, die, obwohl in sich verschieden, letztendlich doch alle zusammenlaufen. Charles Darwin führte Notizbücher über ein breites Spektrum wissenschaftlicher Gebiete wie die Zoologie und Geologie. Jedes Gebiet stand natürlich für sich, aber schließlich liefen sie alle zusammen und ermöglichten ihm, das Rätsel der Evolution zu lösen. Ein kreatives Leben erfordert, dass man den Dingen ihre Aufmerksamkeit schenkt, so dass sich jedes aus dem fördernden Kontext der anderen kreativen „Unternehmungen“ entwickeln kann.
Es stimmt daher nicht, dass kreative Menschen schneller oder härter arbeiten oder eine größere Anzahl von Aktivitäten in einen Tag packen können. Ihre vielen Arbeiten finden gleichzeitig statt, jede in ihrer eigenen Zeit; diese Zeiten verknüpfen sich miteinander und spenden sich gegenseitig Energie. Wollte man auf einem linearen Zeitplan den gesamten Zeitbetrag aufführen, der an einem kreativen Tag anfällt, würde er wahrscheinlich die vierundzwanzig Stunden überschreiten. Schöpferische Menschen verbünden sich jedoch mit den fraktalen Dimensionen der Zeit, und im Gegenzug gibt ihnen die Zeit jene Zeit, die sie brauchen. Diese reiche und kostbare Zeit ist allen verfügbar. Unsere industrielle Gesellschaft hat uns jedoch darauf konditioniert, Zeit nicht in dieser Weise wahrzunehmen. Oft wird man des Dilettantismus beschuldigt, man gilt als unkonzentriert, fahrig, man springe von dem einen zum nächsten, wenn man versucht mehrere Aufgaben oder Interessen zu verfolgen.

Andererseits wird einem gesagt, man verschwende Zeit, wenn man meditierend im Bürostuhl sitzt. Bill, ein Physiker, der für eine Forschungseinrichtung arbeitete, stellte eines Tages einen großen Sessel in sein Büro. Danach gefragt, sagte er er liebe es, darin zu sitzen und vor sich hin zu träumen, vielleicht auch nachmittags ein wenig zu dösen. Sein Chef war entsetzt. „Sie werden nicht fürs Schlafen bezahlt; die Zeit, die Sie hier sind, haben Sie mit Arbeit zu verbringen.“ Es half nicht, dass Bill darauf hinwies, dass er weit mehr als seine Kollegen publizierte – um zu neuen Ideen zu kommen, musste er aber seinen Tagträumen nachhängen können. Damit trat er in die Fülle der Zeit ein. Für den Bürokraten war es nur Verschwendung von zeit, die sein Unternehmen zu zahlen hatte.

Und daher scheinen viele nur einer Tätigkeit nachzugehen und sich doch erschöpft, wenn sie nach Hause kommen. Ein Bild zu malen, seine Memoiren zu schreiben sind Dinge, die aufs Wochenende oder die Zeit nach der Pensionierung verschoben werden, dann, wenn – hoffentlich – mehr Zeit vorhanden ist. Aber tief im Innern weiß man, dass man es dann nicht tun wird. Denn die Zeit, die man wirklich will, ist die fraktale Zeit hier und jetzt.

source: briggs & peat "seven life lessons of chaos"

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