Mein
Lieber Freund,
ich
hoffe, dieser Brief erreicht Sie bei guter Gesundheit. Ich weiß, das
das, was ich hier schreibe, kein Brief ist, sondern eine E-Mail. Kein
Mensch schreibt mehr Briefe. Ich habe, ganz ehrlich, Sehnsucht nach
den Zeiten, in denen Menschen korrespondierten, sich Briefe
schrieben, wirkliche Briefe auf gutem Papier, das man mit einem
Tropfen Parfüm schmücken konnte oder denen man trockene Blumen,
bunte Federn, eine Haarsträhne beilegen konnte. Ich habe ein wenig
Sehnsucht nach diesen Zeiten, in denen der Briefträger Briefe ins
Haus brachte, und nach der Freude, auch der Angst, mit der wir sie
entgegennahmen, sie öffneten, sie lasen, und nach der Sorgfalt, mit
der wir beim Antworten Worte wählten, abwogen, ihr Licht und ihr
Feuer abschätzten, ihren Duft spürten, weil uns klar war: Sie würde
später ebenfalls abgewogen, studiert, ihr Duft eingeatmet, genossen,
und manche von ihnen würden vielleicht dereinst einmal dem gierigen
Schlund er Zeit entgehen und viele Jahre später noch einmal gelesen
werden. Ich ertrage diese grobschlächtige Formlosigkeit
elektronischer Post nicht. Mit Grausen, ja, körperlichem,
metaphysischem, moralischem Grausen begegne ich diesem „Hi!“, das
uns aus Brasilien aufgezwungen wurde – wie soll man jemanden ernst
nehmen, der einen so anredet?
Das Lachen des Geckos, José Eduardo Agualusa
Donnerstag, 14. August 2014
Sonntag, 10. August 2014
die Wirklichkeit schmerzt und ist unfertig
sagte sie zu mir. "So ist sie, und deshalb unterscheiden wir sie von den Träumen. Wenn uns etwas sehr schön erscheint, denken wir, es kann nur ein Traum sein, und dann zwicken wir uns, um sicherzugehen, dass wir nicht träumen - wenn es weh tut, träumen wir nicht. Die Wirklichkeit tut weh, auch wenn sie uns manchmal erscheint wie ein Traum. In den Büchern steht alles, oft in noch wirklicheren Farben, doch ohne den wirklichen Schmerz der tatsächlichen Dinge. Zwischen Leben und Büchern, mein Junge, entscheide dich für die Bücher." ~
Vendedor de Passados, José Eduardo Agualusa
Vendedor de Passados, José Eduardo Agualusa
Samstag, 9. August 2014
artist & time
Man
kann sich fragen: „Wieviel Zeit brauchte der Künstler für die
Zeichnung?“ Eine Sekunde? Oder einige Monate? Jahre? Vielleicht war
ein ganzes Leben notwendig, bevor diese Handbewegung möglich wurde.
Kreative
Menschen – und wir alle sind kreativ – brauchen (gemessen nach der
Uhr) viel Zeit, in der sie einfach „nichts tun“. Für ihre
Umgebung scheinen sie Tagträumen nachzuhängen oder herumzualbern.
Innerlich aber stellen sie die Beziehung zu der Zeit ihrer Arbeit,
ihren nuancierten Rhythmen und fraktalen Strukturen her. Die
Schauspielerin Glenda Jackson verglich die Zeit, die nötig ist ist,
um während der Proben in eine Rolle hineinzuwachsen, mit „einem
Brot, das in den Ofen geschoben wird“. Ihre Bemerkung ist, ohne
dass sie das gewollt hätte, alchimistisch, ruft sie doch die
Vorstellung wach, dass Materie in ein alchimistisches Gefäß
eingeschlossen und in das heiße Innere eines Ofens gelegt wird. Zu
den wesentlichen Grundsätzen der Alchimie gehört, dass jede Stufe
eine bestimmte Zeitdauer benötigt – was viele Psychologen als
Metapher für die innere Entwicklung des Menschen sehen. Die
„Arbeit“, wie das alchimistische Projekt genannt wird, kann nicht
beschleunigt oder verlangsamt werden. Jeder Zustand, jede Stufe
braucht seine eigene Zeit.
Kreativität
verlangt daher manchmal lange Zeitabschnitte scheinbarer Untätigkeit.
Sie kann aber auch mit einem erstaunlichen Tempo hervorbrechen, so
dass in kurzer Zeit unheimlich viel weggeschafft wird. Der Psychologe
Howard Gruber meint, kreative Menschen betreiben ein ganzes „Netzwerk
von Unternehmungen“ und beschäftigen sich mit vielfältigen
Arbeiten, die, obwohl in sich verschieden, letztendlich doch alle
zusammenlaufen. Charles Darwin führte Notizbücher über ein breites
Spektrum wissenschaftlicher Gebiete wie die Zoologie und Geologie.
Jedes Gebiet stand natürlich für sich, aber schließlich liefen sie
alle zusammen und ermöglichten ihm, das Rätsel der Evolution zu
lösen. Ein kreatives Leben erfordert, dass man den Dingen ihre
Aufmerksamkeit schenkt, so dass sich jedes aus dem fördernden
Kontext der anderen kreativen „Unternehmungen“ entwickeln kann.
Es
stimmt daher nicht, dass kreative Menschen schneller oder härter
arbeiten oder eine größere Anzahl von Aktivitäten in einen Tag
packen können. Ihre vielen Arbeiten finden gleichzeitig statt, jede
in ihrer eigenen Zeit; diese Zeiten verknüpfen sich miteinander und
spenden sich gegenseitig Energie. Wollte man auf einem linearen
Zeitplan den gesamten Zeitbetrag aufführen, der an einem kreativen
Tag anfällt, würde er wahrscheinlich die vierundzwanzig Stunden
überschreiten. Schöpferische Menschen verbünden sich jedoch mit
den fraktalen Dimensionen der Zeit, und im Gegenzug gibt ihnen die
Zeit jene Zeit, die sie brauchen. Diese reiche und kostbare Zeit ist
allen verfügbar. Unsere industrielle Gesellschaft hat uns jedoch
darauf konditioniert, Zeit nicht in dieser Weise wahrzunehmen. Oft
wird man des Dilettantismus beschuldigt, man gilt als unkonzentriert,
fahrig, man springe von dem einen zum nächsten, wenn man versucht
mehrere Aufgaben oder Interessen zu verfolgen.
Andererseits
wird einem gesagt, man verschwende Zeit, wenn man meditierend im
Bürostuhl sitzt. Bill, ein Physiker, der für eine
Forschungseinrichtung arbeitete, stellte eines Tages einen großen
Sessel in sein Büro. Danach gefragt, sagte er er liebe es, darin zu
sitzen und vor sich hin zu träumen, vielleicht auch nachmittags ein
wenig zu dösen. Sein Chef war entsetzt. „Sie werden nicht fürs
Schlafen bezahlt; die Zeit, die Sie hier sind, haben Sie mit Arbeit
zu verbringen.“ Es half nicht, dass Bill darauf hinwies, dass er
weit mehr als seine Kollegen publizierte – um zu neuen Ideen zu
kommen, musste er aber seinen Tagträumen nachhängen können. Damit
trat er in die Fülle der Zeit ein. Für den Bürokraten war es nur
Verschwendung von zeit, die sein Unternehmen zu zahlen hatte.
Und
daher scheinen viele nur einer Tätigkeit nachzugehen und sich doch
erschöpft, wenn sie nach Hause kommen. Ein Bild zu malen, seine
Memoiren zu schreiben sind Dinge, die aufs Wochenende oder die Zeit
nach der Pensionierung verschoben werden, dann, wenn – hoffentlich
– mehr Zeit vorhanden ist. Aber tief im Innern weiß man, dass man
es dann nicht tun wird. Denn die Zeit, die man wirklich will, ist die
fraktale Zeit hier und jetzt.
source: briggs & peat "seven life lessons of chaos"
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